Das Skelett
1
Birgit Stanner schwebte in schwindelerregenden Höhen, bald würde sie seinen
Ring tragen. Als sie die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, war sie vor
Glück so beflügelt, dass sie kaum die Stufen berührte.
Durch die Tür hörte sie das Hämmern, er war wieder am Werkeln. Warum
mussten Männer immer werkeln, besonders die, die kein Talent dafür hatten.
Seine Flüche waren fast lauter als das hämmernde Geräusch. Birgit Stanner
konnte fast den Schmerz des Holzes am eigenen Leib spüren. Sie lächelte, sie
hatte erfahren müssen, wie ungeschickt er mit Hammer und Schraubenzieher war,
nur ein paar Wochen zuvor hatte sie ihn gebeten einen Schrank zusammenzubauen, es
heißt Liebe mache blind, aber, als Selbst die größte Liebe die Mängel nicht
überdecken konnte, der Schrank hatte fatale Ähnlichkeit mit dem berühmten Turm
von Pisa, Tendenz Kolosseum – im 21. Jahrhundert. Hatte sie ein paar Tage
danach ihr Bruder um Hilfe gebeten. Dieser hatte es wieder auseinandernehmen
müssen, beim wieder zusammenbauen, schaute er seine Schwester ernst an.
»Such dir ein Anderen«, hatte er
gesagt, »bei dem hier fällt dir das Haus noch vor der Hochzeit auf dem Kopf«.
Bei der Erinnerung musste sie mehrmals tief atmen. Der Versuch eine ernste
Miene aufzusetzen, wäre fast misslungen. Er sollte nicht glauben, dass sie ihn
auslachte. Nichts sollte den Abend kaputtmachen. Er hatte eine gute Arbeit, bei
seinem Einkommen war sicher kein Problem sich einen Handwerker zu leisten.
Katzenhaft drückte sie die Klingel, nur noch die Tür trennte sie von ihrem
Ziel, Sie hatte etwas zu erzählen, etwas Wunderbares. Sie schaute auf ihren nackten
Finger, versuchte sich vorzustellen, womit er geschmückt werden sollte. Ja,
heute würden alle ihre Träume endlich in Erfüllung gehen. Aus dem Inneren der
Wohnung schrie Mariah Carey „I can't live when living is without you”, das war
genau das richtige Lied. Euphorisch durch das, was sie geplant hatte, klingelte
Birgit ein zweites Mal. Sie war überzeugt, „heute
Abend wird sich mein Leben für immer verändern“. Sie konnte nicht ahnen,
wie Recht sie damit hatte, es war nur so, dass die Wendung nicht ganz die
Richtung nehmen würde, die sie sich vorgestellt hatte.
Wir machen Pläne, ob diese gelingen, wird aber an höhere Stelle
entschieden. Birgit Staner zweifelte nicht daran, dass ihr Vorhaben gelingen
würde.
Der rote Fleck breitete sich aus, regungslos lag sie da, die Augen
aufgerissen. Es bedürfte kein Medizinstudium, um zu erkennen, dass sie nicht
mehr aufstehen würde. Nie mehr. Entsetzt schaute er auf seine linke Hand, der
Hammer war immer noch da, von seinen Fingern fest umklammert, das Blut tropfte
nur langsam auf seinen Schuh.
Hochdonn, ein verschlafenes Nest in Dithmarschen, wo ich Montagfrüh mit hundertprozentiger
Sicherheit sagen kann, was am Freitagabend geschehen wird. Widerwillig lebe ich
hier. Meine Absicht war, mich für eine kurze Zeit aus dem Leben zurückzuziehen,
einige Entscheidungen zu treffen, mich von dem Stress der vergangenen Jahre zu erholen
und mit neuer Kraft zurück in meiner gewohnten Umgebung neu zu starten. Aber
erstens kam es bei mir anders und zweitens als ich dachte. Ich will niemanden
mit meinem Leben langweilen oder mit Erklärungen einschläfern, am Ende musste
ich hierbleiben. Leider bin ich für das Landleben überhaupt nicht geschaffen.
Ich bin in der Stadt geboren und aufgewachsen, so fühle ich mich hier so fehl
am Platz, wie sich nur ein „Don Quijote“ fühlen würde, sollte er sich zwischen
„Lebendig begraben“ und „Der Rabe“ im Bücherregal wiederfinden. Die Hochdonner sind,
im Gegensatz zu mir, sehr angetan von ihren Dörfchen, in dem einst noch eine
kleine Sparkassen-Filiale, eine Poststelle und ein kleiner Kaufmannsladen die
Hauptstraße zierten. Natürlich weiß heute kaum einer noch etwas davon. Mit den
drei Vertretern des täglichen Geschäftslebens verschwand leider das letzte Stück
Leben aus dem Ort. Selbst der Hahn lässt sich nicht vor dem Mittag hören und seit
geraumer Zeit überhaupt nicht mehr.
Wir wollen keine Missverständnisse entstehen lassen, Hochdonn ist kein
hässliches Dorf, im Gegenteil, die Straßen sind gepflastert, die Häuser
gepflegt und die Vorgärten schön bepflanzt, leider mangelt es an Aktivitäten,
Aktionen, welche die Einwohner dazu ansporn sich zusammen zu tun und für Ostern
oder Weihnachten, für ein Sommerfest oder ein neuen Feuerwehrauto etwas zu
inszenieren. Aber, das ist nur der Blick eines Naturbanausen, der nur in dem
Trubel der Großstadt sich lebendig fühlen kann. Die Einwohner sind freundlich,
egal wer auf der Straße anzutreffen ist, ein freundlichen Moin und ein warmes
Lächeln haben sie immer auf den Lippen, es ist einfach nur nicht meine Welt.
Nach dieser Einführung wird jeder
sich wohl leicht vorstellen können, welche Aufregung die folgende Geschichte
verursachte. Ich werde versuchen meine Kommentare für mich zu behalten, um ihre
Meinung nicht zu beeinflussen.
2
September 2008
Es war eine besonders schwarze Nacht, die Neumond-Phase hatte ihren
Höhepunkt erreicht, am Himmel war kein einziger Stern zu sehen. Der schmale Fußgängerweg,
der tagsüber stets von Spaziergänger bevölkert wird, verweilte in tiefer Dunkelheit.
Rechts davon lag das Wasser friedlich im Kanalbett. Der Fußweg war rutschig,
schon einige Tage regnete es ohne Unterlass. Der Herbst hatte begonnen, es ließ
sich nicht länger leugnen.
Angestrengt ging eine gebeugte Gestalt den Weg entlang, das Ziel schien „Klein-Westerland“
zu sein, der kleine Strand am Ende des Spazierweges entlang des Kanals. Der späte
Wanderer atmete schwer, zweifellos wegen der Last, die er auf seiner Schulter
trug. Eine Schaufel war daran festgeschnürt, jedoch nicht so fest, wie es hätte
sein müssen. Die Schippe baumelte gegen seinen Rücken. Sein leises Keuchen war
in der Stille der feuchtkalten Nacht wie ein Donner zu hören. Ein Beobachter
wäre zu der Schlussvollgärung gekommen, dass es nicht zu seinen Gewohnheiten
gehörte, des Nachts mit irgendwelcher Fracht auf der Schulter über dunkle Wege
zu wandern. Der Wanderer blieb einen Moment stehen, war auch niemand da, der ihn
beobachten konnte? Inzwischen war er vollkommen außer Atem, körperliche
Anstrengung gehörte auf keinen Fall zu seinen Hobbys. Dabei stand ihm das
Schwierigste noch bevor. Zumindest würde der Regen seine Spuren verwischen,
dachte er für sich. Ein lautes Horn wurde hörbar, erschrocken blieb er ein
weiteres Mal stehen. Ein Schiff kündigte sich an, obwohl die Dunkelheit es unmöglich
machte, von jemand gesehen, geschweige denn erkannt zu werden, verbarg er sich
in die links wachsende Vegetation. Ein großes Passagier-Schiff fuhr an ihm
vorbei, er stellte sich vor, wie das Wasser sich teilte, in weichen Wellen. Träumte
von sanften Wellen, die sich dabei bildeten, rechts und links von Schiff der
Weg zum Ufer folgten. Betrachtete das silberglänzenden Mondlicht, die sich in
das schwarze Wasser spiegelte. Leider gab es in dieser Nacht all das nicht, es
gab nur einen schweren Gang und eine auf ewig bleibende Schuld.
Überall an Bord brannte Licht, die Musik drang in sein Ohr. Seine Gedanken
verselbstständigten sich wieder. Ohne dass er es gewollt hätte, wanderte seine
Erinnerung sechs Jahren zurück, als das russische Schiff „Uno“ mitten im Kanal
havarierte. Ja, es war ein Frachter, aber vielleicht hatte die Besatzung auch
den Feierabend beziehungsweiße den Schichtwechsel gefeiert, Musik gehört,
gelacht und getanzt, als die Wassermassen über sie hereinbrachen.
Die Musik wurde leiser, bis er außer Hörweite war. Der schwer beladene
Wanderer rückte die Last auf der Schulter zurecht, dann nahm er seinen Weg
wieder auf. Noch schwerer als das Gewicht auf seiner Schulter, wog die
Betrübnis auf seiner Seele. Er hatte, das, was vor einigen Stunden passiert
war, nicht gewollt, er liebte sie, er konnte nicht einmal sagen wie es
geschehen war. Der gegen sich selbst gerichteter Zorn wuchs, Sein Körper
zitterte. Warum war sie nur zu ihm gekommen, warum?
3
März 2014
Es waren nur ein paar Wochen vergangen, seit die Damen Gueniver und McGrein
die Aufregung mit der Heulenden Frau hinter sich gebracht hatten. Diesmal sollte
Hochdonn im großen Stil aus dem Schlaf gerüttelt werden. Durch ein Unwetter war
in der Nähe des Campingplatzes etwas zum Vorschein gekommen, mit dem niemand
hätte rechnen können.
Die Spaziergänger standen entlang des Kanals, die Kameras bereithaltend.
Aufgeregt warteten sie auf die Norwegian Dream, das Schiff sollte innerhalb der
nächsten Stunde zum ersten Mal wieder über den Kanal fahren. In einem Ort, wo
sonst nichts passiert und es auch nichts weiter gibt, sind die großen Schiffe,
die täglich über den Kanal fahren, die Höhepunkte für die hier ansässige
Bevölkerung, aber auch für die Camper, die es vorziehen in der Idylle des Ortes
ihren Campingwagen zu stationieren, anstatt in irgendeiner großen Stadt Ihren
Urlaub zu verbringen.
Alle fieberten dem Ereignis entgegen, letzte Einstellungen wurden
überprüft, der Standort der nur selten auftretenden Sonne zum wiederholten Male
begutachtet, die Position der Hobbyfotografen aufs Neue verändert. Jeder wollte
das perfekte Bild machen, darin waren sich alle einig. Die Menschen tummelten
sich am Kanalufer unabhängig von Alter und Geschlecht. Vom jüngsten mit zehn
Jahren bis zum ältesten mit schätzungsweiser Mitte achtzig war wirklich alles
vertreten. Da ich den Sinn an dieses immer wieder kehrenden Menschenauflaufs
nicht erkennen konnte, befand ich mich zu Hause, versuchte eine Geschichte mit
einem Ungeheuer als Hauptfigur, das am Kanal lebt und am liebsten
Vanillepudding isst, zusammenzubasteln. Plötzliche Schreie rissen mich aus meinen
Überlegungen.
Ich bin kein neugieriger Mensch, so bekomme ich selten mit, was so um mich
passiert und erfahre erst Tage später von meinen Eltern, wer gestorben ist, wo
es gebrannt hat, wo ein Kalb weggelaufen ist, bei wem eingebrochen wurde. OK, letzteres
weniger. Aber dieses Mal konnte ich die Ereignisse nicht ignorieren, die
Schreienden bekamen immer mehr Nachahmer. Der von mir gehörte erste Schrei
klang immer noch in meinen Ohren, als ich aus dem Haus ging. Zum ersten Mal in
meinem Leben verließ ich aus Neugierde das Haus, ich wollte, nein musste
erfahren, was geschehen war. Die Richtung war nicht schwer zu finden, ich
musste nur der Menge hinterherlaufen.
Das Unwetter der vergangenen Nacht, wo der Blitz direkt bei mir vor der Tür
einschlug und meinen Router ins Jenseits beförderte, hatte einige Meter weiter Schauriges
ans Tageslicht gebracht. Ich war jetzt für ein paar Tage internet- und Telefonfrei,
bis der neue Router ankam, aber wie es mir schien, gab es weit Interessanteres
als die neusten Nachrichten auf Google News.
Vor etwa
zwanzig Jahren war in Hochdonn eine Frau über Nacht spurlos verschwunden,
Sabrina Martens fuhr abends zu einer Freundin, kam dort aber nie an. Nach Hause
kehrte sie nicht zurück. Als ihr Mann ...
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