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Mittwoch, 27. November 2019

Leseprobe Lebenslinien



Lebenslinien

Ursula





1

Montag 27. März 2017

»Seit die Kinder weg sind weiß ich nicht, was ich mit dem Tag anfangen soll. Noch nie hatte ich so viel Zeit, um darüber nachzudenken, mit welchem Fuß ich morgens aus dem Bett steigen soll«.

Agnes saß mit ihrem besten Kumpel, der nebenbei gesagt gern mehr als ein Kumpel gewesen wäre, vor einem Kaffee in der Einkaufspassage.

»Sie sind vor einem Jahr ausgezogen, hast du dich immer noch nicht eingewöhnt?“
»Nein,“ motzte Agnes, »ich werde mich sicher nie daran gewöhnen«.
»Doch, das wirst du. Du bist nur eine Übermutter. Wir essen jetzt ein Kingsize Banana Split, danach wirst du dich besser fühlen«. Das überwältigende Lächeln, das Heinrich in ihre Richtung sandte, hätte jeder Frau schwache Knie bereitet, nur Agnes schien nichts davon zu merken.
»Bist du verrückt? Da kann ich mein Kleid für den Sommerball ja gleich in die Tonne werfen. Es ist jetzt schon zu knapp. Bis zum Fest muss ich mindestens zehn Pfund abnehmen«.
Heinrich schaute sie prüfend an. Es gab Rundungen, aber alle waren an den richtigen Stellen. Er hatte nichts zu bemängeln. »Zehn Kilo? Du bist so, wie du bist, genau richtig. Oder willst du zu einem dieser schlecht gelaunten Hungerhaken werden? Außerdem, bis zum Ball sind es noch vier Monate«.

»Zehn Pfund! Keine Kilo. Die kriegt keiner so leicht runter. So, wie sie dahin gekommen sind, werden die nicht wieder verschwinden«. Agnes zupfte dezent an ihrem Pullover. Ja, sie wusste sehr wohl, dass Heinrich ein Auge auf sie geworfen hatte, aber nach so vielen Jahren als Single wollte sie sich jetzt nicht mehr binden. Heinrich tat ihr sehr gut, aber reichte das aus, um sich zusammen zu tun? Sie wollte weder ihm noch sich selbst wehtun. Trotzdem dachte sie oft darüber nach und sie musste zugeben, dass es ihr nicht wirklich zuwider war. Wenn sie ehrlich war, sah sie schon lange Mr. Right in ihm.

»Ich schlage einen Kompromiss vor, ich esse Eis mit Obst, die Kinderportion. Im Gegenzug gehst du heute Abend mit mir schwimmen und Samstag zum Squash«.
»Du weißt, dass ich beim Squash nur eine schlechte Figur mache«.
»Ja, deswegen will ich ja mit dir hin. Es ist das Einzige, bei dem ich dich besiegen kann«. Agnes zwinkerte ihm zu.
»Wenn ich mich zum Affen machen soll, dann isst du eine normale Portion«. Das spitzbübische Lächeln breitete sich wieder über sein Gesicht aus, während seine rechte Hand die Bedienung zu sich winkte.


II

02. Oktober 1582

Eine Melodie drang in ihr Ohr, irgendwo wurde musiziert, um den Abend zu begrüßen. Die Musik hatte es für einen Moment geschafft, dass Ursula ihre Verzweiflung vergaß. Sie kannte dieses Lied, es war von einem italienischen Komponisten. Ursula schloss die Augen, sie versuchte, sich an den Namen zu erinnern. * Giorgio* irgendetwas.

Am Flussufer sitzend, betrachtete das noch nicht zur Frau gereifte Mädchen die spielenden Kinder. Ihr fünfjähriger Neffe und die siebenjährige Cousine hüpften und lachten unbeschwert mit den anderen Kindern des Dorfes. Erinnerungen an ihre eigene Kindheit wurden wach, es war noch gar nicht so lange her, dass sie selbst draußen herumgetollt hatte. Die traurigen Augen schlossen sich wieder. Die wohlklingenden Töne brachten ihr Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit. Jetzt war ihr Herz schwer, ihre Brust fühlte sich an, als hätte sie einen Stein verschluckt der dort stecken geblieben war, während von außen schwere Metallfesseln verhinderten, dass der Brustkorb sich entfaltete. Irgendwo in der Ferne hörte sie leise, wie ihr Name gerufen wurde. Aber sie ignorierte es, wenn jemand etwas von ihr wollte, dann würde diese Person sie schon finden. Noch besser war es, wenn sie nicht gefunden werden würde. Es war kein guter Tag für sie gewesen. Ihr Vater hatte ihr eine große Überraschung versprochen. Schon am frühen Morgen waren sie gemeinsam zu der Schneiderin gefahren und auf dem Rückweg erzählte er ihr, worauf sie sich freuen durfte. Ungläubig saß sie neben ihm in der Kutsche, unfähig zu reagieren. Wie konnte er ihr so etwas nur antun. Es dauerte eine Weile, bis sie sich klar wurde, was der Vater gesagt hatte. Alles Flehen nutzte nichts, ihr Vater hatte eine Entscheidung getroffen und war nicht gewillt, davon abzuweichen.

Das Rufen hörte nicht auf, die Stimme war männlich, kam ihr aber gar nicht bekannt vor. Es war nicht die Stimme ihres Bruders, seine Worte hallten noch in ihren Kopf, mit gesenktem Kopf hatte er ihr gesagt, er könne die Heirat nicht verhindern. Es war auch nicht ihr Vater, den sie nie wiedersehen wollte. Das Rufen kam von einem sehr entfernten Ort. Es hörte sich an, als wenn jemand ihre Ohren dabei zuhalten würde, nein – nicht zuhalten – eher so, als wenn sie voll mit Wasser wären. Ursula ignorierte die fremde Stimme, die unaufhörlich nach ihr rief. Sie kehrte zu ihren Gedanken zurück. Sie brauchte dringend eine Idee, eine Lösung für ihr Problem.

Ein tiefer Seufzer löste sich aus ihrer Brust, streifte ihre Stimmbänder und entfloh in die Freiheit. Ursula wollte weinen. Ihre Augen brannten, ihre Kehle war wie zugeschnürt, die Tränen versagten ihr den Dienst. Aber wie Stunden zuvor in Wagen, traute sich auch jetzt keine einzige über die von dichten Wimpern umsäumte Schwelle.

Als die Kutsche vor dem Haus zum Stehen kam, erklärte ihr Vater, dass die Hochzeit bald stattfinden würde. Bis zu diesem Augenblick war sie nur verzweifelt gewesen wegen der Aussicht, einem Fremden zur Frau gegeben zu werden. Jetzt hörte sie, wie ihr Vater den Namen des Bräutigams sagte. Er hatte schon einen ausgewählt. Günther, ausgerechnet Günther Müller, diesen alten ekligen Mann. Der war schon zweiunddreißig Jahre alt, viel zu alt für sie, die gerade ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Ursula hatte sich ihrem Vater zu Füßen geworfen, sie hatte ihn angefleht sie nicht zur Heirat zu zwingen. Ihr Vater hatte sie nur angeschaut und gesagt: »Du wirst deinen Mann respektieren und gehorchen, wie du es bei mir tust. Ich bin alt, Mein Wunsch ist, dass du versorgt bist, bevor ich sterbe. Deinem Bruder traue ich nicht zu, den Richtigen für dich zu finden«. „Respektieren und gehorchen, wie sie es bei ihm tat?“ Die Frage war, „würde sie weiter ihren Vater respektieren? Und würde sie ihm gehorchen? Noch wichtiger, was hieß der Richtige? Wer war der Richtige? “

Ursula ekelte sich nicht nur vor Günther, sie fürchtete sich vor ihm. Nur ein paar Tage zuvor wurde sie ungewollt Zeugin einer Unterhaltung zwischen zwei Nachbarn. Er hatte seine Frau totgeprügelt, hieß es. Bei dem Gedanken lief es ihr eiskalt durch die Adern. Die schüchterne Irmgard war gerade 26 Jahre alt geworden. Sie erwartete ihr erstes Kind, als sie eines Tages tot im Wald aufgefunden wurde. Jemand hatte sie erschlagen und liegen lassen. Das Kind hing zwischen ihren Unterröcken noch an der Nabelschnur. Irmgard war wahrscheinlich verblutet. Nein, nicht wegen der Geburt, die sie alleine im Wald erlitt, es war ohnehin noch zu früh für die Niederkunft. Eher hatten die zahlreichen Verletzungen dazu geführt, dass nicht nur das Kind frühzeitig auf die Welt kam, um sie gleich wieder zu verlassen. Auch Irmgard hatte ihr Leben ausgehaucht, sie verblutete alleine in Schatten einer Ulme.

»Ursula!«

Wieder hörte sie das enervierende Rufen. Wo kam es bloß her? Sich in alle Richtungen umschauend stellte sie sich die Frage, wem die rufende Stimme gehören könnte. Es war niemand zu sehen. Die tiefe Stimme klang in ihrem Ohr so vertraut, und doch konnte sie sie nicht einordnen. Noch einmal streiften die Augen über die Landschaft, es war niemand zu entdecken.

Heiraten, Ursula kehrte zu ihren Gedanken zurück. Das würde nicht so schnell geschehen können, überlegte sie. Der von Papst Gregor XIII reformierte ** Kalender, sollte erst in 10 Tagen in Kraft treten. Zehn Tage waren aus dem Kalender gestrichen worden. In diesen zehn Tagen würde weder eine Hexenverbrennung noch eine Hochzeit stattfinden. Zehn Tage hatte sie Zeit, um sich etwas einfallen zu lassen. Eine einzelne Träne löste sich von ihrem rechten Auge. Ursula biss die Zähne zusammen, aber es nutzte nichts. Die Schleusen öffneten sich und all ihre Verzweiflung verwandelte sich in einen See von Tränen, in dem das ganze Dorf hätte ertrinken können.

04. Oktober 1582

Die Kirche war mit weißen Lilien und Callas geschmückt, Ursula hatte darauf bestanden. Sie war der Meinung, wenn sie gezwungen war, Günther zu ehelichen, solle sie den richtigen Rahmen dafür schaffen. Mit der Heirat war ihr Leben vorbei, sie musste sich einem Mann unterwerfen, den sie nicht liebte, den sie fürchtete. Sie betrachtete die Heirat als ihre Beerdigung und wählte dafür den passenden Blumenschmuck. Die Frauen des Dorfes schmückten gegen den Willen der Braut die Kirche mit Rosen, als Ursula es sah, hatte sie in einem Anflug von Zorn alles wieder abgerissen. Am Ende mussten sich alle damit abfinden, dass die Hochzeit im Begräbnisstil stattfinden würde. Günther hatte erklärt, dass die Wünsche seiner Braut zu respektieren seien. Für ein paar Sekunden wollte Ursula ihn mögen, sich mit der Heirat abfinden, glauben, dass er ein guter Mann sein würde. Dann fiel ihr ein, dass er das Recht hatte, sie zu berühren, das Bett mit ihr zu teilen, Intimitäten auszutauschen. All das wollte sie nicht. Der bloße Gedanke daran erweckte in ihr den Wunsch, auf der Stelle tot umzufallen.

Ursulas Vater konnte sich nicht erklären wo seine Tochter abgeblieben war. Es war spät, während Günther und das ganze Dorf in der Kirche auf die Braut warteten, fand ein Vagant, nicht weit von der Stelle, wo Irmgard gefunden worden war, Ursulas leblosen Körper. In der Hand hielt sie ein Stück Flanell von der gleichen Art wie Günthers Umhang. Die Röcke waren hochgerissen, alles sprach dafür, dass ihr Gewalt angetan worden war. Den Verletzungen nach zu urteilen hatte sich die junge Frau heftig gewehrt und am Ende den Kampf verloren.

Der schmutzige, leicht gebeugte Finder rannte davon.


2

Montag 03. April 2017

»Ursula, hörst du uns? Wir reden mit dir«.

Langsam schaute Ursula auf. In ihrem Kopf entstand ein Gefühl von vernebelter Erinnerung, als würde sie aus einem Traum erwachen, der gerade schwindet, der Traum war zwar noch lebendig, die alte Melodie dagegen löste sich nach und nach auf, bis sie vollständig aus ihrem Gedächtnis verschwunden war. Neben ihr stand ihr Bruder Thomas. Er sah besorgt aus.

»Hast du etwas gesagt? «
»Du warst abwesend, wir haben mit dir gesprochen, du …«. Thomas brach den Satz ab, seine zusammengezogenen Augenbrauen rückten noch enger zusammen. »Ist alles in Ordnung?“
»Tatsächlich?« Ursula lächelte ihn an, ihre Gedanken waren immer noch bei dem, was sie gerade erlebt hatte. »Ja, mir geht es gut«. Nachdenklich legte sie die Hand auf seinen Arm. »Mach dir keine Gedanken, alles ist gut. Ich habe nur kurz über ein paar wichtige Besorgungen nachgedacht, tut mir leid. Was wolltet ihr von mir?“
»Wir haben einen Termin beim Spezialisten bekommen, er will dich noch diese Woche sehen«.

Noch diese Woche! ihr Herz setzte für eine Sekunde aus. Das Zimmer begann sich zu drehen. Als kleines Mädchen hatte ihr Großvater sie auf ein Karussellpferdchen gesetzt. Panisch hatte sie sich an der Metallstange festgehalten, dass Auf und Ab des Holzpferdes und das sich im Kreis drehende Karussell brachten die vierjährige dazu, hysterisch zu schreien. Ein ähnliches Gefühl entstand jetzt in ihr, das Zimmer fuhr jetzt mit ihr Karussell, Thomas und Agnes winkten ihr fröhlich zu, jedes Mal, wenn sie an ihnen vorbeifuhr. In ihrem Magen entstand das Gefühl als würde sie in einen tiefen Abgrund fallen und nie unten ankommen; die in ihre wachsende Angst raubte ihr den Halt.

Bis vor einigen Wochen war ihr Leben perfekt gewesen, sie hatte einen Job den sie mochte, liebe Kollegen, Freunde, und Zeit ihren Interessen nachzugehen. Ursula interessierte sich für alte Schriften. Durch ihre Arbeit als Restauratorin war diese Liebe angewachsen. Sie war ständig auf der Suche nach neuen Entdeckungen. Ihr Leben wurde aus den Angeln gerissen, als die sich ständig wiederholenden Visionen begannen. Da diese nur in der Nacht kamen, war Ursula überzeugt von Albträumen geplagt zu werden. Dann aber begannen die Schreckgespenster sie auch am Tage zu quälen. Der Gedanke, sie würde langsam den Verstand verlieren, schürte das Feuer, in dem ihre Angst wuchs. Nach einer Weile vertraute sie sich ihrem Bruder an. Thomas hatte sich sofort um einen Termin beim Hausarzt bemüht, doch der hatte nichts gefunden, daher sollte Ursula jetzt zu einem Spezialisten. Die bevorstehenden Untersuchungen ängstigten sie noch mehr, als die Visionen selbst. Irgendwie hatte die junge Frau keine Hoffnung, dass die Diagnose positiv ausfallen würde. Wenn die Untersuchungen nichts Außergewöhnliches ergaben, blieb nur, dass sie ihre Geisteskraft verlor. Keine der Alternativen war verlockend - todkrank oder verrückt. Die Frage war, welche war das kleinere Übel?



 

 


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